Nächstenliebe, ganz nüchtern am Beispiel Deutschland und China
„Im Westen kann man umgeben von seiner Familie sterben, ohne dass sich jemand um einen kümmert. In China wiederum kann man auf der Straße sterben, ohne dass einem geholfen wird.“
Diese pauschalisierte Aussage trägt in sofern einen Funken Wahrheit, als dass bei Unfällen in China weniger spontan geholfen wird als im Westen. Das Erleben und Zeigen von Mitleid bei Chinesen mag aus westlicher Sicht gefühlskalt wirken. Vielmehr lässt sich dieses Phänomen aber mit kulturell bedingter Andersartigkeit im Empathieverhalten erklären.
Die Empathie der Chinesen reicht sogar so weit, dass sie auf Isomatten in den Krankenhausgängen übernachten, um ihren Angehörigen beizustehen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass man in China „noch in verwandtschaftlichen Kategorien denkt, wenn unsere Vorstellung von Verwandtschaft längst verblasst, weil die Beziehungsgeflechte zu unübersichtlich geworden sind.“ Auch die empathische Bindung gegenüber der eigenen Nation hat in der Regel einen hören Stellenwert als im Westen.
„Funktioniert also das Mitgefühl in China mit Menschen, denen man verbunden ist, besser, während im Westen das Mitgefühl für den Unbekannten stärker ausgeprägt ist?“
Dass Chinesen Mitleid anders fühlen ist beispielsweise historisch durch den Konfuzianismus begründbar, wonach Mitleid dem „Gefühl der Nichtgleichgültigkeit, manchmal sogar dem der Unerträglichkeit von Unrecht oder Unglück“ entspringt. Mitleid und Moral des Westens hingegen, sind historisch durch den christlichen Glauben geprägt, also einem Glauben, der vorschreibt, alle Menschen gleich zu behandeln. Der Konfuzianismus hält in dieser Hinsicht weniger konkrete Vorschriften bereit.
Diese Theorie lässt den Schluss zu, dass Chinesen im Erleben von Anteilnahme mehr einem Gefühl folgen, wohingegen der Westen zu einem höheren Anteil der Religion verschrieben ist. Daneben wäre zu hinterfragen, inwiefern diese These generell übertragbar auf die beiden Gesellschaften ist, und ob nicht andere Erklärungsmuster ebenfalls eine Rolle spielen, wie z. B. ausgeprägtes Streben nach Kollektivismus in der chinesischen Gesellschaft.
Auszug: Die Zeit Nr. 52, 17.12.2008, von Frank Sieren
Für den kompletten Text siehe https://www.zeit.de/2008/52/Autounfaelle [Stand: Mai 2009]